Das Erwachen der Avantgarde
Das zeitgenössische Kunstschaffen bildet heute einen Hauptbestandteil der Tätigkeiten von Pro Helvetia und einen der wichtigsten Träger der kulturellen Präsenz der Schweiz im Ausland. Diese Ausrichtung steht im Gegensatz zur Anfangsphase der kulturellen Aussenpolitik vorherrscht und wie sie bis in die 1960er Jahre weiterbesteht.
Im konservativen politischen Klima der Schweiz der 1930er und 1940er Jahre werden die der geometrischen Abstraktion und dem Surrealismus verpflichteten Maler der Avantgarde von den öffentlichen Institutionen weder unterstützt noch anerkannt. Um ihre Interessen dennoch verteidigen zu können, formieren sie sich in Künstlergruppen, die auch politische Forderungen aufstellen. Zu den bekanntesten dieser Bewegungen gehören die in Basel ansässige Gruppe 33 und die 1937 in Zürich gegründete Allianz. Trotz ihres grossen Engagements und zahlreicher Ausstellungen stossen die Vertreter der Avantgarde erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs auf eine gewisse Beachtung seitens der öffentlichen Stellen. 1946 wird anlässlich einer nationalen Kunstausstellung die abstrakte Malerei erstmals berücksichtigt; zehn Jahre später, an der eidgenössischen Kunstausstellung in Basel, verzichtet die Eidgenössische Kunstkommission schliesslich auf eine räumliche Trennung zwischen gegenständlicher und abstrakter Malerei, so dass sich die Schweizer Kunstproduktion nun als einheitliches Ganzes präsentiert.
In der kulturellen Präsenz der Schweiz im Ausland ist die Integration der zeitgenössischen Kunstströmungen ein langsamer Prozess, der immer wieder von Kontroversen über die Qualität und den repräsentativen Charakter der Werke begleitet wird. 1948 vertritt die von Pro Helvetia mit der Organisation einer Ausstellung in Deutschland beauftragte Jury das Konzept einer „gesunden Kunst“, welche die Stabilität der Schweizer Verhältnisse bezeugen soll. In dem von Cuno Amiet und seinen Nachfolgern beherrschten künstlerischen Panorama nehmen die Vertreter der Avantgarde lediglich eine Aussenseiterposition ein. 1950 provoziert eine in Stockholm gemäss ähnlichen Kriterien durchgeführte Ausstellung die Kritik der schwedischen Partner von Pro Helvetia, die eine grössere Berücksichtigung der zeitgenössischen Kunst fordern.
Die erste von Pro Helvetia organisierte Ausstellung, die der abstrakten Malerei einen signifikanten Platz einräumt, findet 1956 im franquistischen Spanien statt. Diese Ausstellung präsentiert eine gleiche Zahl gegenständlicher und abstrakter Kunstwerke, die teilweise von sehr jungen Künstlern stammen. Jean Lecoultre, der jüngste von ihnen, ist 26 Jahre alt und lebt in der spanischen Hauptstadt. Allerdings stösst die Ausstellung in der Presse und beim Publikum auf mässige Begeisterung, und das konservative Kulturideal des Franquismus verhindert einen wirklichen Dialog über die abstrakte Kunst. Eine Zeitung berichtet sogar von schockierten Besuchern, die sich bekreuzigen und den Ausstellungssaal so schnell wie möglich wieder verlassen…
Der endgültige Durchbruch der Avantgarde erfolgt in der kulturellen Präsenz der Schweiz im Ausland 1958 mit der in Westberlin organisierten Ausstellung Ungegenständliche Kunst in der Schweiz. Diese der geometrischen Abstraktion und dem Tachismus gewidmete Ausstellung stellt auch die Bedeutung des Nationalen in der Kunst infrage. Für die Berliner Zeitungen veranschaulicht sie die Emanzipation der Kunst von den nationalen Grenzen.
In der Folge setzt sich die Öffnungsbewegung in den von Pro Helvetia organisierten Kunstausstellungen fort und spiegelt sich in zahlreichen Projekten, deren Hauptziel der Dialog über das aktuellste Kunstschaffen ist. Bedeutende Ausstellungen zeitgenössischer Kunst finden 1971 und 1985 in New York und 2003 in Madrid statt. (tk)
Archivbestände
BAR E9510.6 1991/51, Bd. 275, 349, 352
Literaturhinweise
Dreissiger Jahre Schweiz, ein Jahrzehnt im Widerspruch: Ausstellung Kunsthaus Zürich, 30.10.-10.2.1982, Zürich, Kunsthaus 1981
Lüthy, Hans A. und Heusser, Hans-Jörg: L’Art en Suisse 1890-1980, Lausanne, Payot 1983
Omlin, Sybille: Kunst aus der Schweiz: Kunstschaffen und Kunstsystem im 19. und 20. Jahrhundert, Zürich, Pro Helvetia 2002