Rousseau Swiss Made
Mit Vorliebe nutzt ihn die Schweizer Kulturdiplomatie, um das Bild der alpinen Idylle, der Schweiz als Zufluchtsort für Verfolgte, als Land der Freiheit und des pädagogischen Eifers zu festigen: Jean-Jacques Rousseau, instrumentalisiert, zurechtgezupft, „helvetisiert“. Die zahlreichen Facetten des Philosophen dienen dazu, ebensoviele positive Bilder des Landes zu exportieren.
Der Intellektuelle Rousseau eignet sich besonders gut für die Variation. Rousseau selbst hat für sich ein gewisses Schweizertum geltend gemacht, als eine periphere, abgerückte Haltung, von der aus er sich an den philosophischen Debatten im Europa der Aufklärung beteiligte. Manchmal rühmt er das idealisierte politische System der Schweiz, die Überschaubarkeit der politischen Organisation der Kantone und die Nähe von Regierenden und Regierten. Die Schweizer Landschaftsbeschreibungen, diejenigen von Clarens in der Nouvelle Héloïse, einem Bestseller des 18. Jahrhunderts, können ebenfalls als Export positiver Wertungen gewertet werden. Ob als Dichter, Pädagoge, Musiker oder Philosoph – die Figur Rousseau kommt beim anvisierten Publikum an.
Nach dem Zweiten Weltkrieg lassen sich in der Schweizer Kulturdiplomatie drei aufeinanderfolgende Rousseau-Bilder unterscheiden:
Nach dem Krieg findet Rousseau Eingang in die Darstellung einer idyllischen Schweiz. Er erlaubt es zu zeigen, dass sich die Schweiz seit mehreren hundert Jahren um Freiheit und Erziehung sorgt: Ist sie nicht seit Rousseau und Pestalozzi die Wiege der Pädagogik?
Das Jahr 1962, von der Schweizer Verkehrszentrale „Rousseau-Jahr. Jahr der Rückkehr zur Natur. Jahr der Schweiz“ getauft, ist ein Wendepunkt, in dem „zwei Rousseaus“ nebeneinander bestehen. Der eine von ihnen ist weitgehend eingebürgert, der andere neu, universeller und unabhängiger von den Schweizer Landschaften. Das Organisationskomitee der Feierlichkeiten setzt sich auf Initiative von François Jost (1918-2001) aus der Schweizer Verkehrszentrale, Pro Helvetia und dem Fremdenverkehrsbüro der Region Biel zusammen, das die Gelegenheit nutzen möchte, um die Sankt-Petersinsel bekannt zu machen, wo Rousseau seine Spaziergänge unternahm. Als treuer Schüler von Gonzague de Reynold verfasst François Jost eine Studie in der Tradition eines helvetischen Rousseaus: „Die Grundzüge von Rousseaus Charakter entsprechen denjenigen des Schweizer Nationalcharakters“. Ziel ist es, die Schweiz im Ausland als Pionierland im Umgang mit der Natur darzustellen und vor allem ihren touristischen Reiz zu erhöhen. So ist in einer Direktive des Komitees für den 250. Geburtstag Rousseaus zu lesen: „Mit Jean-Jacques Rousseau fanden unsere Berge, die bis zu diesem Zeitpunkt als Abszess unseres Globus angesehen wurden, zur Schönheit, die wir heute kennen. Seit Rousseau wandelte sich die Schweiz zu einem Urlaubsort.“
In diesem Dispositiv zeigen sich allerdings Risse. Die Botschaft ist nicht mehr so eindeutig wie zuvor. Der Direktor von Pro Helvetia schreibt dem Verleger Marcel Joray, der aus Anlass des Jubiläums eine Broschüre von François Jost mit dem Titel Unser Rousseau herausgibt: „Pro Helvetia kann sich nicht an einer Broschüre mit einem Titel beteiligen, der uns in den Augen des ausländischen Publikums lächerlich zu machen droht. […] wir müssen um jeden Preis verhindern, J.-J. Rousseau während des Rousseau-Jahrs zu monopolisieren. Man könnte uns leicht vorwerfen, aus dem Schriftsteller ein ‚historisches Monument der Schweiz’ machen zu wollen.“ Distanziert sich Pro Helvetia vom politisch und touristisch korrekten Bild der Schweiz? Sie erhält auf jeden Fall Schützenhilfe vom Regisseur Claude Goretta mit dem Film Jean-Jacques Rousseau und die Energie der Träume (Jean-Jacques Rousseau et l’énergie des rêves) und vom Literaturwissenschaftler Jean Starobinski, dessen Werk Rousseau: eine Welt von Widerständen (La transparence et l’obstacle) sich von der Studie Jean-Jacques Rousseau suisse von François Jost absetzt.
- Von diesem Zeitpunkt an unterstützen die offiziellen Organe die gegensätzlichen Darstellungen, manchmal in einer engen Verbindung mit der Schweiz, manchmal losgelöster. Die Gegensätzlichkeit zeigt sich 1968 in der ironischen Darstellung des Philosophen im Schweizer Pavillon an der Ausstellung Hemisfair von San Antonio. Die Installation besteht aus einem Metallvogel an einem Kabel, der die Ausstellung überfliegt. Wilhelm Tell – mit einem Fernrohr ausgestattet – steuert das Fluggerät, das in seinen Krallen einen Korb transportiert, in dem sich Jean-Jacques Rousseau befindet. Die Idee ist es, eine Schweiz darzustellen, die in Bewegung ist und dabei ihre bewährten Werte mitnimmt. Diese Polyphonie scheint heute weiterzubestehen. (mg)
Archivbestände:
BAR, E 9510.6 1991/51/429.
Literaturverzeichnis:
Kadelbach Thomas, „Swiss made. Pro Helvetia und das Bild der Schweiz im Ausland“, in: Claude Hauser, Bruno Seger und Jakob Tanner, Zwischen Kultur und Politik: Pro Helvetia 1939 bis 2009, Zürich/Genf, NZZ Verlag/Slatkine, 2010.
Meizoz Jérôme, Le gueux philosophe, Lausanne, Antipodes, 2003.