Räume der Innovation
Bis in die 1970er Jahre spielen Aktionen experimentellen Charakters und ästhetische Innovation keine Rolle in der Politik von Pro Helvetia im Bereich der Musik. Einziges Ziel der durchgeführten oder unterstützten Projekte ist es, die Werke der wichtigsten Schweizer Komponisten im Ausland bekannt zu machen. Der Wandel tritt erst mit der zunehmenden Ausrichtung der Stiftung auf die Gegenwartskunst und die Kunstförderung ein.
Wie in anderen Bereichen der Kulturpolitik im Ausland kommt in der Musik der experimentelle Charakter erstmals in den Espaces zum Ausdruck, die in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre und anfangs der 1980er Jahre in Paris stattfinden. Die Espaces sind als Plattform der Gegenwartskunst konzipiert und stehen neuen Kunstströmungen offen. Sie bieten auch musikalischen Innovationen einen geeigneten Rahmen, die der kulturellen Präsenz der Schweiz im Ausland so eine neue Ausrichtung geben. 1976 nimmt Jacques Guyonnet an den Espaces teil, der als Mitbegründer des Studio de musique contemporaine in Genf und Präsident der internationalen Gesellschaft für zeitgenössische Musik eine wichtige Rolle in der Weiterentwicklung der musikalischen Ausdrucksformen spielt. In Paris stellt er sein Werk Immémoriales und das audiovisuelle Projekt Vidéocosme vor, an dem auch Geneviève Calame beteiligt ist.
Auch das Werk Lieu-dit: Derborence des 1935 in Monthey geborenen Komponisten Pierre Mariétan wird während den Espaces erstmals im Ausland aufgeführt. Mariétan spielt eine Vorreiterrolle im Bereich der musikalischen Erschliessung von Alltagsgeräuschen und zählt 1966 zu den Gründern der Groupe d’études et de réalisations musicales in Paris. Den Geist des Mai 1968 vorwegnehmend, arbeitet diese Gruppe ein Aktionsprogramm aus, das die individuelle Stimme und Motivation jedes einzelnen Musikers in den Vordergrund rückt.
Das Werk Lieu-dit: Derborence beruht auf einer vollständigen Lektüre des Romans von Charles-Ferdinand Ramuz, begleitet von Musikern, die spontan auf die im Text enthaltenen akustischen Informationen reagieren. Die Geräusche der Berge, der Natur und des bäuerlichen Lebens verwandeln sich so in Musik. Bilder der Walliser Landschaften, die auf eine Leinwand projiziert werden, ergänzen die akustische Dramaturgie. In Paris findet die Aufführung vom 22. bis am 25. Februar 1979 statt. In ihrem Bericht gibt die Zeitung Le Monde die besondere Atmosphäre der Aufführung wieder: Man hört dem Text wie während einer Nachtwache in den Bergen zu: von Zeit zu Zeit einige aufgenommene Naturgeräusche, leise und fern; einige Instrumente als abstrakte Untermalung, monoton die Stille strukturierend oder kurze rhythmische, harmonische oder melodische Schemen improvisierend, die aufeinander folgen und sich kaum spürbar verändern, im Stil der ‚minimal music‘, aber ohne je den akustischen Raum zu übersättigen.
1992 ist Pierre Mariétan ein weiteres Mal an einer Initiative im Ausland beteiligt. Im Schweizer Pavillon der Weltausstellung von Sevilla baut er die akustische Installation Paysmusique auf, die 96 in den verschiedenen Landessprachen aufgenommene Stimmen enthält. Diese werden wie Musikinstrumente behandelt und bilden ein eigentliches Orchester, eine Musik der Dialekte. Allerdings ist nicht allen Bewohnern der Schweiz eine Stimme gegeben. Gemäss dem Komponisten bildet der geräuschlose Tanz der Immigranten den Raum der Stille in Paysmusique. (tk)
Literaturhinweise
Mariétan, Pierre: Dit chemin faisant : conversations, fragments-sources, géophonies, Paris, Klincksieck 2008
Mariétan, Pierre: Lieu-dit : Derborence, in: Le Trou. Revue d’art, 1997, S. 111-125