"Black out" in Moskau
Am 20. November 1973 sorgt im Politischen Departement ein Telegramm für Aufregung, das die Schweizer Botschaft in Moskau nach der Eröffnung einer von Pro Helvetia organisierten Filmwoche abgeschickt hat. Um Schaden für die Schweiz in der Sowjetunion abzuwenden, empfiehlt die diplomatische Vertretung, mehrere Filme aus dem Programm zu streichen. Gleichzeitig fordert sie das Politische Departement auf, bei der Kulturstiftung direkt zu intervenieren. Unmittelbarer Grund dieses Schrittes ist die Vorführung der beiden Spielfilme Storia di confine und Black out, die aus der Sicht der Botschaft die Schweiz lächerlich machen.
Der von Bruno Soldini gedrehte Film Storia di confine hat den Schmuggel an der Grenze zwischen dem Tessin und Italien während des Zweiten Weltkriegs zum Thema und präsentiert die Schweizer Grenzwächter in einer wenig ruhmreichen Rolle. Black-out von Jean-Louis Roy erzählt die Geschichte eines pensionierten Ehepaars, das in seiner Wohnung Nahrungsvorräte anhäuft, um sich vor einer rein fiktiven Gefahr zu schützen.
Nach der Vorführung dieser beiden Filme schreibt auch die Frau des Schweizer Botschafters in Moskau einen empörten Brief an das Politische Departement: Gezeigt wurde Storie di confine, ein ekelhafter Film, der ein betrübliches Bild unseres Landes abgibt. […] Die Grenzwächter in militärischer Uniform sind korrupt, bestialisch, brutal oder ganz einfach albern, wenn nicht obszön. […] Dies wäre noch das geringste Übel, wenn in den ekligen Szenen nicht ständig die Schweizer Fahne zu sehen wäre, oder besser das weisse Kreuz auf rotem Grund: auf den Decken, auf dem Bild des Generals Guisan, usw. Wir sind bestimmt keine Engel, aber es ist skandalös, in diesem Land ein so schäbiges Bild der Schweiz zu verbreiten.
Wie die meisten anderen Schweizer Filmwochen beruht diejenige in Moskau und anderen sowjetischen Städten auf einer Zusammenarbeit zwischen Pro Helvetia und den Filmemachern. Ebenfalls beteiligt ist die sowjetische Botschaft in Bern. Da die Filmwochen hauptsächlich als Plattform für zeitgenössische Produktionen gedacht sind, steht das Bild der Schweiz für die Organisatoren nicht im Vordergrund. Diese Ausrichtung wird auch in der Teilnahme mehrerer Regisseure deutlich. Alexander Seiler, Yves Yersin und Markus Imhoof begeben sich nach Moskau und verweisen bereits bei ihrer Ankunft auf die kritische Ausrichtung des neuen Schweizer Films.
Demgegenüber sorgt sich das Politische Departement um das Image der Schweiz im Ausland und nimmt deswegen das Protestschreiben der Botschaft äusserst ernst. Der Generalsekretär spricht sich dafür aus, den von Pro Helvetia in Moskau veranstalteten „Unfug“ sofort einzustellen, ohne auf die Kulturstiftung Rücksicht zu nehmen. Allerdings warnt das Departement des Innern vor den politischen Folgen einer Zensur der Veranstaltung: Eine solche Massnahme wäre nicht geeignet, in der Sowjetunion für die demokratischen Grundwerte der Presse- und Meinungsfreiheit zu werben… Die Frage der Opportunität der Filmwoche wird in mehreren Berichten an den Bundesrat ausführlich besprochen. Letztlich können die Filmvorführungen aber wie geplant in weiteren sowjetischen Städten durchgeführt werden.
In ihrer eigenen Analyse der Filmwoche räumen die Regisseure eine gewisse Diskrepanz zwischen den inhaltlichen Absichten der Filme und ihrer Rezeption ein. Da der Film in der Sowjetunion hauptsächlich als Propagandamittel eingesetzt wird, ist das Publikum mit den Mitteln der Ironie und der Sozialkritik nicht vertraut. So verstehen die an Schuluniformen gewöhnten Moskauer Kinobesucher den Film Unser Lehrer von Alexander Seiler, der sich kritisch mit den traditionellen Unterrichtsmethoden auseinandersetzt, als Beispiel einer fortschrittlichen Pädagogik. (tk)
Archivbestände
BAR E2003(A) 1988/15, Bd. 486